Die »Naina«-Debatte

»Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Ver­sicherun­gen. Aber ich kann ’ne Gedicht­s­analyse [sic!] schreiben. In 4 Sprachen.« – Diese Nachricht (»Tweet«) ein­er 17-jähri­gen Ober­stufen­schü­lerin auf dem Kurz­nachrich­t­en­di­enst Twit­ter hat Deutsch­land die näch­ste große Bil­dungs­de­bat­te beschert. HAZ, FAZ, Bild, Stern, N‑TV, Han­dels­blatt, kurzum: alle Medi­en nah­men sich der Geschichte an. Nun hat sog­ar das Schul­min­is­teri­um Nor­drhein-West­falens Stel­lung genom­men.

Dabei hat Naina, so der Name dieser Schü­lerin, sowohl recht als auch unrecht.

Sie hat recht damit, dass es auch die Auf­gabe der Schule ist, auf das Leben vorzu­bere­it­en. Ich erin­nere mich leb­haft, im Poli­tikun­ter­richt der 8. Klasse als Hausauf­gabe aufgegeben zu haben, man möge auf der Basis des BAföG-Satzes ein Monats­bud­get erstellen: Woh­nung, Kom­mu­nika­tion, Klei­dung, Aus­ge­hen, Ver­sicherun­gen, Büch­er plus ein Obo­lus für Unvorherge­se­henes. – Die fol­gende Auswer­tung ergab sowohl betrüblich häu­fig Nudeln-mit-Ketchup-Tage am Monat­sende als auch die Frage, wie manche Studierende es sich leis­ten kön­nen, Rauch­er zu sein.

Naina hat aber in zweier­lei Aspekt den­noch unrecht.

Ein­er­seits gibt es Myr­i­aden an Din­gen, Ken­nt­nis­sen und Fähigkeit­en, die zum alltäglichen Über­leben sin­nvoll sind. Eine Schule kann es aber nicht leis­ten, Schlag­bohrmaschi­nenkurse anzu­bi­eten und IKEA-Möbel-Auf­bau-Stun­den. Wir haben keine Zeit, um einzu­trainieren, wie man For­mu­la­re aus­füllt, egal, ob es sich dabei um Über­weisungsträger han­delt, um Anträge auf Arbeit­slosen­geld II, um Kindergeld, um BAföG, Nach­sendeaufträge bei der Post oder eine Befreiung von der Zahlung des Rund­funkbeitrages.

Manche Dinge lernt man nicht in der Schule, son­dern im Eltern­haus oder im eige­nen Leben.

Ander­er­seits zeigt Naina ein gewiss­es Bild von Bil­dung, das immer häu­figer anzutr­e­f­fen ist. Der deutsche Philosoph Blu­men­berg hat von Bil­dung als Hor­i­zont gesprochen, nicht als Arse­nal. Die Idee der Ver­w­ert­barkeit von Bil­dung greift aber um sich: Wozu Rechtschrei­bung, solange der Text ver­ständlich ist? Wozu Math­e­matik, wenn ich sie jen­seits des Dreisatzes später doch nie brauche? Der Idee, dass Wis­sen heute – mit Inter­net und Wikipedia – jedem, jed­erzeit, über­all zugänglich ist, bes­timmt mit­tler­weile ganze Cur­ric­u­la. Es ändert aber nichts an der Tat­sache, dass dies eine bit­tere Leben­se­in­stel­lung ist. – Denn selb­stre­dend kann ein Men­sch ohne Hor­i­zont über­leben; aber einen Hor­i­zont zu haben, macht die Welt für ihn und all seine Mit­men­schen lebenswert­er.

Bit­ter ist der Verzicht auf Fak­ten­wis­sen vor allem, weil diese Abwe­sen­heit Mon­stren schafft. Es gibt Gym­nasi­as­ten, die erk­lären, Hitler habe die Mauer erbaut; Gym­nasi­as­ten, die keinen deutschen Satz fehler­frei zu Papi­er brin­gen; Gym­nasi­as­ten, die Jerusalem irgend­wo in Libyen verorten (»neben Ägypten, ne?«). Wie aber soll jemand die Vertrei­bung der Deutschen aus den Ost­ge­bi­eten beurteilen, dessen Geschichtsken­nt­nisse für die Zeit vor 1945 besten­falls neblig sind? Wie soll jemand die Gesellschaft der DDR ein­schätzen kön­nen, wenn er »Sozial­is­mus« für einen fre­und­schaftlich-inni­gen Umgang inner­halb der Clique hält? (Übri­gens: Ja, das sind alles Beispiele aus mein­er per­sön­lichen Unter­richt­ser­fahrung.)

Wir kön­nen zweifel­los nicht mehr alles wis­sen. Aber nichts mehr zu wis­sen, darf keine Alter­na­tive darstellen!

Schlussendlich gibt es einen drit­ten Aspekt, der bei Naina durch­scheint und den ich mit Sorge beobachte. Die junge Frau hat Angst, Angst vor dem Unvor­bere­it­et­sein auf alle Even­tu­al­itäten der Welt. Wohin ist das Selb­st­be­wusst­sein entschwun­den, den an Gedich­t­analy­sen und vier Fremd­sprachen geschärften Ver­stand dafür einzuset­zen, sich einen Miet- oder Ver­sicherungsver­trag durchzule­sen? Und welche Rolle spie­len dabei Eltern­häuser, deren größte Angst bere­its in der Sekun­darstufe I darin beste­ht, ihr Sohn oder ihre Tochter könne auch nur einen einzi­gen Fehler bege­hen? Seit wann ler­nen wir nicht mehr aus Fehlern?