Wie die Pandemie die Schule verändert

Wer in Nieder­sach­sen den Leis­tungskurs – oder for­mal kor­rekt: den Kurs auf erhöhtem Anforderungsniveau – im Fach Geschichte belegt, lernt im Hal­b­jahr 12.1 The­o­rien zum Sachge­bi­et »Krise, Umbruch, Rev­o­lu­tio­nen«. Ein Lernziel ist dabei die Erken­nt­nis, dass eine Krise auftritt, sobald eine (teils von außen kom­mende) Verän­derung die oft über Jahre gewach­se­nen, imma­nen­ten Schwächen eines Sys­tems offen­legt und dieses sich neu find­en muss. In diesem Sinne muss man die Coro­na-Pan­demie als Krisenkatalysator des deutschen Bil­dungssys­tems beze­ich­nen, denn sie macht auch genau zwei Jahre nach meinem ersten und vor­erst let­zten Coro­na-Post scho­nungs­los deut­lich, welche Soll­bruch­stellen wir angelegt haben: Die ver­schleppte Dig­i­tal­isierung, der Betreu­ungss­chlüs­sel und die Tat­sache, dass viel, vielle­icht: viel zu viel vom Engage­ment und der indi­vidu­ellen Lei­dens­fähigkeit aller Beteiligten abhängt.

So sah bis zum Aus­bruch der Pan­demie im Früh­jahr 2020 Dig­i­tal­isierung in der Schule zumeist nicht anders aus als Anno 2001, dem Jahr mein­er Abitur­prü­fung: Es gibt einen, vielle­icht zwei Com­put­er­räume, die für angele­gentlich durchge­führte Onlinerecherchen gebucht wer­den kon­nten. So sucht­en, sel­ten genug, Jugendliche jed­er Jahrgangsstufe während des Unter­richts Bilder für Refer­ate, lasen aus Recherchegrün­den Artikel oder spiel­ten unter Anleitung den Wahl-o-mat durch. Die einzig sicht­bare Verän­derung der ver­gan­genen zwei Jahrzehnte waren Smart­boards, also elek­tro­n­is­che Tafeln, die in eini­gen Fäch­ern sin­nvoller nutzbar waren als in anderen; im Falle mein­er Fäch­er waren Smart­boards für Geschichte großar­tig, für Latein hinge­gen verzicht­bar. Hart­näck­ig hiel­ten sich deswe­gen Gerüchte, der auss­chlaggebende Fak­tor zur Anschaf­fung eines Smart­boards seien die Presse­bilder der finanzieren­den Kom­mu­nalpoli­tik­er gewe­sen.

Mit­tler­weile haben an mein­er Schule alle Schü­lerin­nen und Schüler der Jahrgangsstufen 5 bis ein­schließlich 11 ein iPad als elek­tro­n­is­ches Endgerät; Mate­ri­alien in allen klas­sis­chen und inter­ak­tiv­en For­men und Far­ben wer­den teils über das von den meis­ten nieder­säch­sis­chen Schulen genutzte Por­tal IServ, teils über OneNote von Microsoft zur Ver­fü­gung gestellt, bisweilen auch direkt per Air­drop auf die Geräte der Ler­nen­den gesandt. Die iPads lassen sich draht­los mit den Smart­boards verbinden, sodass die Vorstel­lung von Schülerergeb­nis­sen direkt einge­bun­den wer­den kann – umgekehrt lassen sich auch die Lehrer-iPads verbinden, sodass ich bei Tafe­lan­schrieben nicht mehr der Lern­gruppe meinen Rück­en zudrehen muss. Über schnelles Inter­net und entsprechende Videotools lassen sich auch Schü­lerin­nen und Schüler in Iso­la­tion oder Quar­an­täne zuschal­ten, was auch in einiger Regelmäßigkeit erfol­gt. Selb­st Klassen­büch­er sind in unserem Hause dig­i­tal­isiert wor­den. In einem näch­sten Schritt dürften die Schul­büch­er auf eBooks umgestellt wer­den – und so das Prob­lem, das Schul­ruck­säcke unangemessen schw­er für Kinder­rück­en sind, ein für alle Mal lösen.

Die Dig­i­tal­isierung hat also nach Jahren mit Trip­pelschrit­ten endlich Sprünge vor­wärts ins 21. Jahrhun­dert gemacht. Offen sind dabei freilich viele Fra­gen: Welche der man­nig­falti­gen neuen Wege sind päd­a­gogisch zielführen­der als andere? Wie geht man mit Neu­land-Prob­lematiken um wie dem Recht am eige­nen Bild, Cyber-Mob­bing und der­gle­ichen? Welche Fortschritte wer­den zurückgenom­men wer­den, sobald die Poli­tik nach einem Ende der pan­demis­chen Lage wieder auf die Ein­hal­tung von, um nur ein Beispiel zu nen­nen, Daten­schutzreg­u­lar­ien drängt?

Des Weit­eren liegen schulpoli­tis­che Prob­leme offen dar, welche nicht durch Dig­i­tal­isierung zu lösen sind. Eine dieser Schwierigkeit­en ist der Betreu­ungss­chlüs­sel: Wenige Lehrkräfte sind für (zu) viele Jugendliche ver­ant­wortlich. Um das exem­plar­isch durchzurech­nen: Otto Nor­mal­pauk­er am nieder­säch­sis­chen Gym­na­si­um unter­richtet etwa 24 Wochen­stun­den; das entspricht im Schnitt acht Lern­grup­pen. Mit Glück sind zwei Klassen dop­pelt beset­zt – so kön­nte ich ja eine fik­tive 9z sowohl in Latein als auch in Geschichte unter­richt­en –, was dann sechs mal knapp 30 Jugendlichen entspräche. Ich bin also für rund 170 Kinder zuständig. Jede Woche. In der aktuellen Lage melden einige der 340 Erziehungs­berechtigten mor­gens ihre Kinder krank. Andere fehlen so. Einige sitzen zu Hause, in Iso­la­tion oder Quar­an­täne, möcht­en gerne dig­i­tal zugeschal­tet wer­den; andere Kinder sind zu krank dafür. Ich kann bei Fehlquoten von 10–20% unmöglich tage­sak­tuell diesen Überblick behal­ten. Vielmehr muss ich darauf ver­trauen, dass Schü­lerin­nen, die zugeschal­tet wer­den wollen, sich proak­tiv bei mir melden; dass Schüler, die etwas nicht ver­standen haben, mich oder jemand anderes aus der Lern­gruppe proak­tiv danach fra­gen; dass Schüler, die tech­nis­che Prob­leme haben, diese proak­tiv rück­melden. Dass dem jedoch oft genug Schüchtern­heit, Ver­legen­heit, Desin­ter­esse, Angst, Faul­heit, Zeit­man­gel, Unwis­sen oder son­stige Ver­mei­dungsstrate­gien ent­ge­gen­ste­hen, darf lei­der nie­man­den über­raschen.

Wenn man dann diese Prob­lematik auf eine Meta-Ebene hievt, ergibt sich die Erken­nt­nis, dass viel – zu viel – vom Zufall gelin­gen­der Per­so­n­enkon­stel­la­tio­nen abhängt. Ja, meine Schule ist in der glück­lichen Lage, mit Dienst- und mit Schüler-iPads aus­ges­tat­tet zu sein. Warum? Weil unsere Schulleitung, unser Kol­legium, unser Schul­träger, unsere Eltern­schaft hier kon­se­quent Hand in Hand gear­beit­et haben. Auch vorher, während der Lock­down­phasen des Schul­jahres 2020/21, fan­den am Haselün­ner Gym­na­si­um regelmäßig Stun­den über Lern- und Video­plat­tfor­men statt; die im Schul­jahr 2021/22 durchge­führten Lern­stand­ser­he­bun­gen haben gezeigt, dass grund­sät­zlich zwar Rück­stände aber keine gravieren­den Lück­en aufge­treten sind. Warum? Weil unser Kol­legium die Her­aus­forderung angenom­men hat, Auf­gaben anders zu stellen, sich in Tech­nik einzuar­beit­en, viel Geduld und Lang­mut und Zeit aufge­wandt hat. So ein Ein­satz funk­tion­iert, weil unsere Schüler­schaft und unsere Eltern­schaft gemein­sam mit uns durch diese Phase gegan­gen sind. Sicher­lich lief nicht alles per­fekt, aber jegliche Klage aus unserem Hause ist im Ver­gle­ich zu vie­len anderen Schulen in Deutsch­land und Europa eher das berühmte Jam­mern auf hohem Niveau. – Was aber ist mit all den Schulen, wo es ein weniger engagiertes Kol­legium gibt? Wo es über­forderte, ohn­mächtige, ego­is­tis­che, teil­nahm­slose, unerr­e­ich­bare oder Unre­al­is­tis­ches fordernde Eltern gibt? Wo weniger selb­st­ständi­ge, weniger inter­essierte, weniger willige Schü­lerin­nen und Schüler ler­nen… soll­ten?

Tat­sache ist lei­der, dass wir alle, die wir mit dem Sys­tem Schule in Beziehung ste­hen, während Coro­na noch mehr als son­st in einan­ders Hand lagen und vor­erst weit­er­hin liegen wer­den; Tat­sache ist auch, dass es während dieser Phase – in der zumin­d­est tem­porär bei jedem und jed­er mal die Ner­ven blank lagen – bisweilen ein Lot­tospiel war, wie gut die Betreu­ung und der Lern­er­folg aus­fie­len. Mein Gerechtigkeit­sempfind­en sagt mir, dass es wün­schenswert wäre, hier Sicher­heit­snet­ze einzuziehen – doch wie kön­nten die ausse­hen, wenn sie eben nicht auf dem Engage­ment und der Selb­staus­beu­tung einiger Lehrer beruhen sollen?