Wie ungerecht ist unser Bildungssystem?

Ich bin ein Arbeit­erkind. Als ich im Som­mer 1992 aufs Gym­na­si­um wech­selte, lernte ich Stoff, den wed­er meine Mut­ter noch mein Vater je in der Schule behan­delt hat­ten. Den Satz: »Dabei kön­nen wir dir nicht mehr helfen« habe ich ab dem zarten Alter von 10 Jahren zu hören bekom­men. Meine Eltern – wiewohl bei­de her­vor­ra­gende, kluge, bele­sene Men­schen – gehören näm­lich ein­er Gen­er­a­tion an, in der oft genug noch der Geld­beu­tel der Fam­i­lie darüber entsch­ied, ob ein Kind eine höhere Schul­lauf­bahn mit entsprechen­dem for­mal­isierten Bil­dungsab­schluss ein­schla­gen kon­nte. Und selb­stver­ständlich hat dieser mein Bil­dungsauf­stieg auch meine Erfahrun­gen und meine Wahrnehmung geprägt. Ein­er­seits pflege ich den Bias, dass ein solch­er Auf­stieg möglich ist, weil ich es ja geschafft habe; das versper­rt mir ten­den­ziell den Blick auf all jene, die unter­wegs auf der Strecke geblieben sind. Ander­er­seits habe ich eine echte Bin­nen­per­spek­tive, deren Erfahrun­gen sich von landläu­fi­gen Annah­men dur­chaus unter­schei­den.

Wohlmeinende Akademik­er glauben an dieser Stelle oft, dass die Unter­schiede und Ungerechtigkeit­en vornehm­lich finanzieller Natur waren – beziehungsweise im Falle heutiger Kinder noch sind. Das ist zwar nicht falsch, aber nach mein­er Erfahrung sowohl als Schüler damals wie auch als Lehrer heute nicht der Knack­punkt. Nicht falsch ist diese Annahme, weil es bei pubertären Kindern mein­er Gen­er­a­tion dur­chaus eine Rolle spielte, ob die Schuhe drei Streifen hat­ten oder ein No-Name-Artikel waren, ob man Zugriff auf einen elter­lichen, geschwis­ter­lichen Fun­dus an CDs hat­te oder sich seine Mixe selb­st aus dem Radio mitschnitt, ob der Kon­to­stand Fer­nurlaub und das Aus­land­s­jahr zuließ oder nicht. Auch heute spielt Geld, oder vielmehr nicht über­mäßig viel davon zu haben, eine tra­gende Rolle – und das, obwohl es längst Hil­fe- und Unter­stützungs­maß­nah­men für finanziell schwächere Fam­i­lien gibt. Ich selb­st hat­te das Glück, dass meine Eltern mir alles Essen­zielle ermöglicht haben; gle­ich­wohl habe ich beispiel­sweise von einem Jahr im Aus­land geträumt, war aber überzeugt, dass dieser Traum nie und nim­mer umset­zbar wäre. Und das, obwohl es auch schon zu mein­er Schulzeit Möglichkeit­en gegeben hätte, ihn mir zu erfüllen! Allein, die Exis­tenz solch­er Möglichkeit­en war und ist zu oft unbekan­nt und deren Inanspruch­nahme oben­drein noch scham­be­haftet. Wir stellen uns kurz vor, wir müssten zur Klassen­lehrerin unseres Sohnes (oder zum Klassen­lehrer unser­er Tochter) und uns dort erk­lären: »Ich brauche Geld, son­st kann mein Kind nicht mit auf die Klassen­fahrt.« So ein Schritt kostet ein riesiges Maß an Über­win­dung! Sozial ist es dann ein­fach­er, famil­iäre oder andere Ausre­den zu erfind­en. Und genau das passiert tagtäglich in Deutsch­land.

Wie bere­its gesagt, arbeit­en Schulen, Städte, Land­kreise, Stiftun­gen, Konz­erne, wohlwol­lende Pri­vat­per­so­n­en an all diesen Aspek­ten. Möglicher­weise – und dur­chaus hof­fentlich – ist das ein Prob­lem, welch­es wir mit­tel­fristig gelöst bekom­men: Durch Ausweitung der Möglichkeit­en, durch Infor­ma­tion und Mund­pro­pa­gan­da, dadurch, dass wir die Inanspruch­nahme von Hil­fe aus der Scham-Falle her­aus­lösen.

Der Knack­punkt jedoch – und auch das erwäh­nte ich ja bere­its – ist ein ander­er, näm­lich der ungle­iche Zugriff auf Wis­sen, wom­it ich weniger das Wis­sen im Sinne der binomis­chen Formeln meine, des Quin­ten­zirkels oder der Kon­ju­ga­tion unregelmäßiger Ver­ben, als vielmehr die sub­tile Ken­nt­nis von Erfahrun­gen und Spiel­regeln. Ich habe eben schon erwäh­nt, dass es auch für mich möglich gewe­sen wäre, gratis ein Aus­land­s­jahr zu absolvieren; schon zu mein­er Zeit bestand näm­lich das Par­la­men­tarische Paten­schafts-Pro­gramm des Deutschen Bun­destages. Davon aber wussten wir nichts und in Zeit­en vor dem Inter­net war es auch höchst unwahrschein­lich, per Zufall über der­lei Infor­ma­tio­nen zu stolpern. Ein weit­eres Beispiel: Im Früh­jahr 1994, ich war ger­ade in der 6. Klasse, rief mein Vater in meinem Bei­sein sein Patenkind in München an, weil mein Cousin der einzige war, dem meine Eltern eine Beratung aus erster Hand zutraut­en hin­sichtlich der Wahl der zweit­en Fremd­sprache, die damals vor Beginn der 7. Klasse anstand. Mein Cousin riet meinem Vater damals vehe­ment von Latein ab. Damit habe er schlechte Erfahrun­gen gemacht, wir soll­ten lieber Franzö­sisch wählen.

Bekan­ntlich haben wir nicht auf ihn gehört – son­st wäre ich wohl kaum heute Latein­lehrer. Aber einem akademisch vor­be­lasteten Eltern­paar wäre schon die Notwendigkeit eines solchen Schrittes nicht in den Kopf gekom­men, schließlich kön­nen sie aus einem eige­nen Erfahrungss­chatz schöpfen. Arbeit­erkinder haben aber im Zweifels­fall auf nie­man­den unmit­tel­baren Zugriff, der schon mal eine zweite Fremd­sprache wählen musste. Arbeit­erkinder haben eben­so wenig unmit­tel­baren Zugriff auf jeman­den, der Prü­fungs­fäch­er für die gym­nasiale Ober­stufe kom­biniert hat, eine Fachar­beit konzip­ieren musste oder sich an ein­er Hochschule imma­trikuliert hat. Ich war im Herb­st 2001 der erste in meinem Stamm­baum, der je eine Uni­ver­sität von innen gese­hen hat­te. Fra­gen à la »Papa, wie schreibt man eine Pros­em­i­narar­beit?« oder »Mama, welche Unter­la­gen braucht das BAföG-Amt?« waren keine, die ich sin­nvoller­weise hätte stellen kön­nen. Durch diesen Dschun­gel musste ich als erster und hin­re­ichend oft allein. Mehr als ein­mal habe ich dabei, rück­blick­end, Umwege genom­men oder dumme Fehler gemacht, weil mir schlicht Infor­ma­tio­nen fehlten. Ein Schick­sal übri­gens, das Arbeit­erkinder in dieser Form mit Migranten an Uni­ver­sitäten teilen; egal, was deren Eltern beru­flich machen, den Mikrokos­mos der bun­desre­pub­likanis­chen Uni­ver­sität müssen auch sie sich von null kom­mend aneignen.

Sicher­lich sind wir – als Gesamt­ge­sellschaft – auch dabei, diese Prob­lematik anzuge­hen; es ist allerd­ings keines, welch­es sich mit ein­er Gießkanne voller För­der­mit­tel lösen ließe. Es bedarf maßgeschnei­dert­er Infor­ma­tio­nen, es braucht ein Coach­ing, das niedrigschwellig und 24/7 auch für ver­meintlich »dumme« Fra­gen zur Ver­fü­gung ste­ht. Wenn wir Fair­ness wollen, benöti­gen wir eine gemein­same Kraftanstren­gung viel­er einge­bun­den­er und ver­net­zter Mit­mach­er: Schulen müssen Fachar­beit­en zu einem wirk­lichen Vor­läufer akademis­ch­er Arbeit­en machen (was bere­its geschieht – wenn auch nicht immer und über­all), müssen auch geziel­ter auf akademis­ches Ler­nen im Sinne selb­st­ständi­ger Infor­ma­tions­beschaf­fung vor­bere­it­en (was wenig geschieht; wir haben Hem­mungen, Jugendlichen ein echt akademis­ches Pen­sum zuzu­muten). Die Träger von Stipen­di­en wie die poli­tis­chen oder sozialen Stiftun­gen – also Kon­rad Ade­nauer, Friedrich Ebert, Hein­rich Böll, Friedrich Nau­mann, Rosa Lux­em­burg… – und ihre För­der­möglichkeit­en müssen bekan­nter gemacht wer­den; die Exis­tenz von Net­zw­erken wie arbeiterkind.de sollte zum All­ge­mein­wis­sen von Abi­turi­en­ten wer­den.

All dem zum Trotz: Echte Fair­ness im Sinne völ­liger Gle­ich­heit der Startbe­din­gun­gen, damit wirk­lich nur Begabung und Eifer des Einzel­nen das Fortkom­men im Leben bes­tim­men kön­nten, dürften wir wohl nicht erre­ichen. Lei­der. Denn auch unter gün­sti­gen Bedin­gun­gen wird ein Arbeit­erkind immer eine Holschuld haben, und seinen Aller­w­ertesten hochkriegen müssen, um an diese Infor­ma­tio­nen zu kom­men, während die Akademik­er­mut­ter ihrem Sprössling diesel­ben Infor­ma­tio­nen auch unge­fragt nach­tra­gen kann – und wer wollte ihr das ver­bi­eten?